„Monobloc“ – der Stuhl: Plastikschrott oder Glücksfall aus Kunststoff?

Blog zu Film und Podcast.

Eine Milliarde Mal verkauft: Schlecht und umweltschädlich oder gut und nachhaltig – alles eine Frage der Perspektive?

Jeder in Deutschland kennt den Monobloc: Von Straßencafés, Strandbars, Terrassen und Schrebergärten.
Foto: Salzgeber Verleih / Pier 53 Film 

Über Hauke Wendlers Dokumentarfilm, den Podcast von NDR und Deutschlandfunk Kultur sowie das Buch zum meistverkauften Möbelstück der Welt

Jeder in Deutschland kennt den Monobloc: Von Straßencafés, Strandbars, Terrassen und Schrebergärten. Meist ist er weiß, manchmal blattgrün oder rehbraun, selten hat er eine andere Farbe. Er ist aus Plastik, zu 99,9% aus Polypropylen (PP). Das macht ihn in den Augen vieler zu einem Übel, das verboten gehört. Weil dieser Stuhl ein Wegwerfprodukt ist, das wie andere Dinge aus Plastik am Ende die Meere verschmutzt und die Umwelt zerstört. Das sagen viele Menschen in Deutschland und wahrscheinlich auch im Rest Europas.

Jeder in Deutschland kennt den Monobloc von Strandbars.
Foto: privat

Eine andere Sichtweise: Hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt lieben den billigen Monobloc. Für sie ist er ein Glücksfall. Weil sie endlich nicht mehr auf dem Boden sitzen müssen, sich mit ihm trotz Behinderung selbstständig fortbewegen können und sein Recycling dazu beiträgt, ihren Lebensunterhalt zu sichern. So sehen Menschen in Afrika, Asien und Südamerika den Monobloc, die sich teurere Stühle nicht leisten können. 

Ist der Monobloc umweltschädlicher Plastikschrott?

„Hässlich“, „geht schnell kaputt“, „instabil“, „eine ökologische Katastrophe“, „verschmutzt das Meer“, – so reden manche der von Dokumentarfilmer Hauke Wendler in Hamburg interviewten zufälligen Passanten über den Plastikstuhl. 

Positiv spricht niemand über ihn. Oder doch? „Er ist billig“, geht vielleicht als freundliche Äußerung durch. Allerdings nur kurz. Dann folgt der Nachsatz: „Sobald man es sich leisten kann, kauft man sich einen besseren Stuhl“, beispielsweise aus Korb oder Holz. Denn das wächst nach, ist stabiler, wird schöner gestaltet und verrottet auf natürliche Weise. Das ist die nachhaltige Alternative.

Nur weil es den billigen Plastikstuhl gibt, müssen viele Millionen Menschen in Indien nicht mehr auf dem Boden sitzen. 
Foto: Salzgeber Verleih / Pier 53 Film

Zuerst die Frage: Was halten Sie von Plastikstühlen?

Hauke Wendler geht dieser Frage in drei Medien nach: in seinem 90-minütigen Dokumentarfilm „Monobloc“, der Ende Januar 2022 in die Kinos gekommen ist, in einer sechsteiligen Hörfunksendung von NDR und Deutschlandfunk Kultur mit dem Titel „Monobloc. Auf der Spur von einer Milliarden Plastikstühlen“, die auch als Podcast angehört werden kann, und in einem „Monobloc“-Bildband.

Hauke Wendlers 90-minütiger Dokumentarfilm „Monobloc“.
Foto: Salzgeber Verleih / Pier 53 Film

Mit der Frage „Was halten Sie von Plastikstühlen?“ an zufällige Passanten in Hamburg beginnen Film und Hörfunksendung. Was wir zu sehen und hören bekommen, bestätigt sämtliche Vorbehalte gegen den Stuhl. Keiner der interviewten Menschen in Deutschlands Norden lässt ein gutes Haar an ihm. Einer sagt sogar: „Es wäre gut, wenn man es schaffen würde, diesen Stuhl aus dem Verkehr zu ziehen“. 

Der hässliche Plastikstuhl begann als Designobjekt

Dabei beginnt die Geschichte des Vielgeschmähten in der Avantgarde. Viele Designer hatten den Wunsch, einen Stuhl aus einem einzigen Stück Material herzustellen. Seit den 1920er Jahren haben sie hieran gearbeitet. Nach 1950 konnten dann erstmals Stühle aus einem Material, als „Monoblocs“, mit den damals neuen Technologien zur Kunststoffverarbeitung hergestellt werden. 

Der französische Ingenieur Henry Massonnet entwickelte 1972 den „Fauteuil 300“, der als Urtyp des heute überall auf der Welt zu findenden einfachen Plastikstuhls gilt. Der Gründer der „Gesellschaft für die Verarbeitung von Kunststoffen“, der „Societé de Transformation des Matières Pastiques“ (STAMP), erhielt für seinen Monobloc 1974 sogar einen „Oscar du Meuble“. 

Massonnet gelang es, den Stuhl in weniger als zwei Minuten zu produzieren. Seine Firma bewarb das Produkt als modernes Lifestyleobjekt, mit dem man – ähnlich wie damals mit vielen anderen Möbeln aus Kunststoffen – einen Blick in eine futuristische Zukunft erhaschte. Da er kein Patent auf das Möbel anmeldete, kann es heute überall auf der Welt lizenzfrei hergestellt werden.

Plastikstühle im Urlaub.
Foto: Anke Auch

So wird der Plastikstuhl hergestellt 

Monobloc-Stühle werden im Spritzgussverfahren hergestellt, in einem meist vollautomatisierten Prozess, der lediglich 50 bis 55 Sekunden dauert. Dabei wird Polypropylen-Granulat erhitzt. Wenn es flüssig ist, wird es in eine Gussform gespritzt. Das ist ein großes schweres Stahlwerkzeug aus zwei Hälften, in das die Stuhlform hineingefräst wurde. Wasser im Werkzeug sorgt dafür, dass das Granulat anschließend abkühlt und fest wird. Dann fahren die beiden Werkzeughälften auseinander, der Stuhl wird von einem Roboter entnommen und fertig ist er. 

Genau 2,75 Kilogramm wiegt der Stuhl in der Version, den die norditalienische Firma Progarden fertigt, die das Filmteam an ihrem Unternehmenssitz in der Nähe des Comer Sees besucht. Dort kann man den Monobloc bestellen, Mindestabnahmemenge ist eine halbe LKW-Landung mit 2.160 Stück, das sind 12 Paletten à 180. So platzsparend und in großen Mengen kann man nur einen leichten, stapelbaren Stuhl transportieren. Im Baumarkt gibt es den Monobloc als Garten- und Bistrostuhl dann bereits für unter zehn Euro das Stück.

Der Monobloc ist in Uganda, Indien und Brasilien begehrt

Die Visite bei den Brüdern Proserpio, den Gründern von Progarden, ist eine von mehreren Reisen, die das Filmteam von Hauke Wendler unternimmt. Diese Touren erweitern die beschränkte eurozentristische Sicht auf den Stuhl. 

Für viele Menschen ist der Monobloc das einzige Möbelstück überhaupt, das sie sich leisten können.
Foto: Salzgeber Verleih / Pier 53 Film

Denn nach dem Besuch in Norditalien finden Menschen aus der sogenannten Dritten Welt Gehör. Dadurch bekommt der Monobloc viele Facetten, die ihn in einem völlig neuen Licht zeigen. 

Der Monobloc rettet Indiens Wälder

In Indien kommen Mitarbeiter der Firma Supreme Industries zu Wort. Bringt der italienische Monobloc von Progarden etwas weniger drei Kilogramm auf die Waage, so bietet Supreme auch Stühle an, die nur 1,7 Kilogramm wiegen. Die deutliche Materialersparnis verbilligt den Stuhl und macht ihn zwar instabiler – aber für breite Schichten erst erschwinglich. Für viele Menschen auf dem Subkontinent ist er das einzige Möbelstück überhaupt, das sie sich leisten können. Nur weil es den billigen Plastikstuhl gibt, müssen viele Millionen Menschen bis in die untere Mittelschicht nicht mehr auf dem Boden sitzen. 

Und, ein erstaunliches Argument: Der Stuhl rettet Indiens Wälder. „Würde nur die Hälfte aller Plastikstühle in Indien aus Holz gefertigt, gäbe es im ganzen Land keinen einzigen Baum mehr“, behauptet ein Manager on Supreme Industries.

Ein bezahlbarer Rollstuhl mit Monobloc

Die Reisen des Filmteams nach Uganda und in die Nähe von Los Angeles gehören thematisch zusammen. In den USA spricht die Crew mit Don Schoendorfer, einem ehemaligen Maschinenbauer, der die christliche Initiative „Free Wheelchair Mission“ gegründet hat. Die hat bislang zusammen mit Partnern vor Ort 1,3 Millionen Rollstühle an Menschen mit Behinderungen in 94 Entwicklungsländern verteilt. Denn laut Aussage der Organisation können sich auf der Welt 75 Millionen Menschen einen Rollstuhl nicht leisten, obwohl sie ihn benötigen. Das will die „Free Wheelchair Mission“ ändern.

Das Herzstück des ersten von Free Wheelchair Mission entwickelten Modells, des „GEN_1“, ist ein Monobloc mit verkürzten Beinen.
Foto: Free Wheelchair Mission

Ihr Ziel ist es, den Menschen „durch das Geschenk der Mobilität neue Würde, Unabhängigkeit und Hoffnung zu geben, ohne dass die Empfänger dafür bezahlen müssen.“ Dafür haben Schoendorfer und seine Unterstützer versucht, „den billigsten Rollstuhl der Welt“ zu bauen. Hier kommt der Plastikstuhl ins Spiel. Das Herzstück des ersten von ihm entwickelten Modells, des „GEN_1“, ist ein Monobloc mit verkürzten Beinen. Mit ihm startete die Initiative, die das Gefährt mittlerweile weiterentwickelt hat und heute die Nachfolgemodelle einsetzt, die ohne Plastikstuhl auskommen. Wie sehr sich Menschen nach einem Rollstuhl sehnen und welch große Hilfe er bringt, veranschaulichen Film und Podcast mit einem Bericht darüber, wie in Uganda „GEN_1“-Rollstühle an Menschen mit Behinderung verteilt werden.

Wie sehr sich Menschen nach einem Rollstuhl sehnen und welch große Hilfe er bringt, veranschaulichen Film und Podcast mit einem Bericht darüber, wie in Uganda „GEN_1“-Rollstühle an Menschen mit Behinderung verteilt werden.
Foto: Free Wheelchair Mission

Der Monobloc als Teil der Kreislaufwirtschaft in Brasilien

Eine weitere Reise führt nach Fortaleza im Norden Brasiliens. Dort filmt das Team die Müllsammlerin Ilda de Andrade. Sie sammelt Wiederverwertbares aus Metall, Papier, Eisen, Plastik und vielen anderen Materialien, ihr monatliches Einkommen schwankt zwischen 40 und 60 Euro. Der Beruf als Müllfrau, wie sie sich nennt, ist für sie ein sozialer Aufstieg. Denn so verdient sie ihr eigenes Geld und muss sich nicht mehr als Dienstmädchen für Kost und Logis bei einer reichen Familie verdingen. Ein kaputter Plastikstuhl ist für sie ein guter Fang. Findet sie welche, bekommt sie 85 Cent für 4 Kilogramm von der Recyclinggenossenschaft, deren Mitglied sie ist. Diese erzielt mit den Monoblocs aus Polypropylen einen guten Preis bei den Aufkäufern. Denn die Stühle können vollständig wiederverwertet werden.

Andere Unternehmen kaufen der Kooperative den Plastikmüll ab, zerkleinern, waschen und zermahlen ihn. Spezialfirmen in der Region fertigen hieraus erneut Granulat, das wieder als günstiger Rohstoff für die Herstellung von preiswerten Plastikstühlen dient. Kreislaufwirtschaft par excellence. 

Der Plastikstuhl im Vitra-Designmuseum

Fortaleza ist die letzte Reise des Monobloc-Filmteams. Zurück zu Hause in Deutschland baut es aus 150 Stühlen den Schriftzug „Monobloc“ am Strand in St. Peter Ording. Nachdem der Stuhl von Menschen auf vier Kontinenten für seinen erschwinglichen Preis, seine Recycelbarkeit und die Vielfalt seiner Einsatzmöglichkeit bis hin zum Rollstuhlsitz geschätzt worden ist, steht er nun erneut an der Nordsee. Dort, wo er nur wenig geachtet wird. 

Das stimmt nicht ganz. 2017 ist der Monobloc erneut ein Designobjekt. Ihm ist eine eigene Ausstellung mit dem Titel „Monobloc – Ein Stuhl für die Welt“ gewidmet, in der Hochburg des Sitzmöbels, im Vitra Design Museum in Weil am Rhein. 

Was ist der Monobloc nun? Plastikschrott oder ein Glücksfall aus Kunststoff?

Der Plastikstuhl wird von Menschen in verschiedenen Welten ganz unterschiedlich gesehen. Wer hat recht, die Verfechter nachhaltiger Holzstühle oder die Anhänger preiswerter Plastikstühle? Eine einfache, eindeutige Antwort gibt es wie bei vielen Fragen nicht.

Weitere Hintergrundinfos über den Monobloc:

von: F. Stephan Auch

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